Kamara Sekou gibt Gas, beschleunigt sein Motorrad auf 50 Stundenkilometer; er lenkt mit der rechten Hand, raucht mit der Linken. Halsbrecherisch düst er über die Kreuzung im Zentrum von Bouaké, zieht an seiner Kippe und biegt links ab. Plötzlich kracht es hinter ihm.
Ein klappriger Toyota hat ein anderes Motorrad auf der Kreuzung seitlich gerammt. Fahrer und Mitfahrer purzeln auf die Straße. Der Vordermann verliert beide Sandalen, ist aber sofort wieder auf den Füßen. Der Sozius kniet auf dem heißen Asphalt. Kamara Sekou fährt an diesem Dienstagmorgen im Mai 2015 einfach weiter ohne sich umzusehen. Denn Unfälle gehören in Bouaké, einer Großstadt im Zentrum der Elfenbeinküste, zum Alltag wie noch vor vier Jahren der Krieg.
Schuld daran sind zehntausende Motorradtaxi-Fahrer ohne Helm und Führerschein. Für umgerechnet 30 Cent bringen sie jeden durch die Stadt. Wie viele sie sind, ist unklar. 25.000, heißt es bei der Gewerkschaft. 200.000, schätzt der Polizeichef. Das wäre jeder dritte Einwohner. Dabei ist es verboten, Menschen gegen Geld auf Motorrädern mitzunehmen.
An der Unfallkreuzung verstummt für einen Moment das Huporchester. Die Menschen fahren langsamer und beobachten, wie sich die beiden Glücklosen sortieren. Kamara Sekou ist schon längst außer Sichtweite, rast in einen anderen Winkel der Stadt. Entlang an Steinhütten mit Blechdächern und dem Rathaus, das nie jemand fertig gebaut hat, an Frauen, die am Straßenrand frische Mangos verkaufen oder gackernde Hühner. Hinein in Gassen, in die kein Auto passt. Immer eine Reifenbreite vorbei an Schlaglöchern, groß wie Gullideckel.
Sekou ist klein und drahtig, er trägt T-Shirt und Jeans, verdreckt vom orangefarbenen Sand. Im Gesicht eine breite Sonnenbrille gegen den Fahrtwind. Die Plastiksandalen lässt er in den Kurven lässig über den Asphalt schleifen. „Mein Leben hängt vom Mototaxi ab“, sagt der 22-Jährige. Er ahnt nicht, was der Bürgermeister plant.
Nicolas Djibo ist das Oberhaupt der Stadt. Der 66-Jährige nennt die Mototaxifahrer „ein Phänomen“. Doch über kurz oder lang soll das Phänomen verschwinden, „langfristig müssen wir das Phänomen verbieten“, sagt der Bürgermeister. Doch gegenüber den Mototaxifahrern ist er machtlos. Wer wissen will warum, muss in der Geschichte der Elfenbeinküste 13 Jahre zurückgehen.
Damals rebellierte ein Teil der Armee gegen die Regierung. Bouaké wurde zur Hochburg der Aufständischen. Die Maschinen in den Fabriken verrotteten, wurden weggeschafft oder zerstört. Das warf die Wirtschaft um 30 Jahre zurück. Fast jeder Einwohner von Bouaké verlor seine Arbeit.
Der ganzen Stadt diktierten die Rebellen ein Motto: „Effort de guerre“ – Dein Beitrag zum Krieg, und konfiszierten alle Autos. Um mit ihnen an die Front zu fahren oder sich zu bereichern. Die Einwohner gingen zu Fuß oder fuhren Motorrad. Chinesische Firmen reagierten auf den Bedarf: Über einen Hafen im Nachbarland Togo exportierten sie zollfrei Motorräder, Modell Sanya SY-125-10, bis zu 90 Stundenkilometer schnell.
Als der Krieg 2011 vorbei war, boten Beamten der US-Behörde für Entwicklungshilfe, USAID, den Rebellen einen Tauschhandel an: Wer sein Gewehr abgab, erhielt dafür ein Motorrad. So wurde Bouaké – Hochburg der Rebellen – zur Hauptstadt der Mototaxifahrer.
Kamara Sekou war damals zu jung zum Kämpfen. Während der Krise arbeitete er als Mechaniker in einer Mercedes-Werkstatt. „Das Geld reichte gerade aus“, dann schloss der Betrieb. Seine große Schwester, eine Friseurin, organisierte eine Sanya für 570 Euro. „Keine Ahnung, woher sie das Geld hatte“, sagt Sekou und grinst. Dann rast er los.
Auf Suche nach Kunden jagt Sekou zur Mittagszeit durch die Straßen. Zischt und schnalzt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. An einer roten Ampel drängelt er zwischen Autos und Motorrädern vorbei in die erste Reihe. Auf seiner Maschine leuchtet ein Sticker, groß wie ein Scheinwerfer: „BOSS“ steht dort in Neonlettern.
Ein älterer Herr am Straßenrand nickt dem Boss zu. Ein Zeichen, dass er einen Fahrer wünscht. Sekou bremst scharf und wendet die Maschine. Seine dünnen Beine berühren kaum den Boden. Als der alte Herr aufsteigt, schwirren weitere Fahrer an ihnen vorbei die Hauptstraße hinunter. Die Fahrer halten zusammen. Sie haben sich in einer Gewerkschaft organisiert, das verleiht ihnen auch politische Macht.
In einem Café, zwei Straßenblöcke von der Hauptstraße entfernt, sitzt Aboubacar Souma der mächtige Präsident der Mototaxi-Gewerkschaft. Wenn er etwas zu sagen hat, wispert er seinem Sekretär ins Ohr. Der sagt dann mit fester Stimme: „Wir profitieren von Solidarität.“ Die vier anderen Männer aus dem Vorstand nicken eifrig. „Wenn wir wollen, können wir die Stadt innerhalb eines Tages lahmlegen.“ Wieder eifriges Nicken. Einige Male ist das schon vorgekommen. Jedes Mal drohte die Situation zu eskalieren. Zuletzt wollte die Stadtverwaltung von Bouaké die Steuern auf Mototaxis erhöhen. Als Zeichen seiner Macht ließ Souma die Fahrer das Rathaus blockieren. Nach drei Monaten Blockade gab der Bürgermeister nach – und die Steuern blieben unten.
Für rund fünf Euro im Monat können sich die Fahrer, die es offiziell gar nicht geben dürfte, im Rathaus registrieren. Dafür bekommen sie eine orangefarbene Warnweste. Kamara Sekou ist stolz auf den leuchtenden Fetzen, der im Fahrtwind hinter ihm flattert und auf dem geschrieben steht: „Ta securité, c’est mon affaire“ – Deine Sicherheit ist meine Angelegenheit. Eines Tages, so hofft Sekou, wird er die Weste ablegen. Dann wird er ein echter Taxifahrer, mit einem Auto und mit einem Führerschein.
Es riecht nach Gülle und Hühnern, die über offener Flamme gebraten werden. Die Trampelpfade zwischen den Ständen sind nicht für Motorräder gemacht. Ohne zu Hupen prescht Sekou haarscharf an den Menschen vorbei. Wenn er langsamer wird, weil jemand im Weg steht, droht er fast umzukippen. Am Stand angekommen steigt der alte Herr ab. Von überall her wabern Stimmen und Gekicher.
Um sie herum wird verkauft, was die Menschen in Bouaké tagtäglich produzieren: Stühle, Betten und bunte Stoffe aus den Familienbetrieben. Baumwollöl und Cashewkerne aus den zwei größten Fabriken. Von rund 600.000 Menschen arbeiten die meisten in kleinen Betrieben. Nur wenige tausend schuften in den Fabriken für Mindestlohn. Der Rest verkauft Waren auf dem Markt. Oder fährt Mototaxi. Der alte Herr hat Kopfsalat und Reis gekauft. Sekou hievt den 20-Kilo-Sack vor sich auf den Tank seiner Sanya. Nachdem er seinen Fahrgast zuhause abgesetzt hat, will er tanken.
Am Straßenrand verkaufen Händler Benzin aus Glasflaschen wie anderswo Limonade. Drei Euro bezahlt Sekou täglich für Kraftstoff, nach einem guten Tag bleiben ihm umgerechnet acht Euro. Seit sein Vater starb, ernährt Sekou damit seine Familie: zwei Schwestern, einen Bruder und seine Mutter. Hätte er Geld, würde er gleich seine Freundin heiraten. „Mein Motorrad gibt mir alles.“
Mit zwei Freunden teilt sich Sekou einen Stammplatz gleich am Markt. Sieben Tage die Woche stehen die drei zwischen einer Schubkarre voller Jeanshosen und einem Anhänger voller Kokosnüsse. An diesem Nachmittag wehen vor ihnen Plastiktüten über den Asphalt. Die Luft ist staubig, es riecht nach Benzin. Nur 500 Meter weiter sitzt Konan N’Guessan, 56, in einem gut gekühlten Büro. Der Polizeipräfekt kam erst vor vier Jahren in die Stadt. Während der Krise gab es in Bouaké keine Polizei. N’Guessan trägt eine Uniform mit glänzenden Knöpfen. Seine goldene Uhr wirkt zierlich am breiten Handgelenk. Auf dem Schreibtisch steht ein Kalender mit Motiven von Motorrädern, wie sie die drei Jungs fahren.
„Wir möchten die Menschen nicht gegen uns aufbringen, deswegen machen wir keine strengen Kontrollen mehr. Das bedeutet aber nicht, dass wir aus dem Spiel sind.“
„Es ist besser geworden“, sagt N’Guessan mit weicher Stimme. Früher trugen die Mototaxis weder ein Kennzeichen noch waren sie registriert. Mittlerweile tragen immer mehr Fahrer eine Weste, doch noch immer landen zehn Unfallberichte in der Woche auf dem Schreibtisch des Polizeichefs. Die Dunkelziffer liegt ein Vielfaches darüber.
Laut Gesetz gibt es die Mototaxis nicht. „Wir wollen Frieden und dass die Bevölkerung uns akzeptiert“, sagt der N’Guessan. Wir waren schließlich zehn Jahre lang von ihnen getrennt.“
Sekou schiebt sich draußen die Sonnenbrille ins Gesicht, lächelt und sagt: „Seitdem ich Mototaxi fahre, kann ich nichts Übles über Gott sagen“. Dann jagen er und sein Kollege wieder los.
Making Of