Studentendorf

Die Unbeugsamen

Unbezahlbare Studiengebühren, Prostitution und immer wieder Todesfälle: Nach dem Bürgerkrieg hat die Universität zwar wieder den Betrieb aufgenommen, aber die Studenten fühlen sich von der Universitätsleitung allein gelassen. In einem Dorf am Rande des Campus haben sie nun eigene Lösungen gefunden. Von Raphael Thelen und Veronika Wulf

Es ist vier Uhr an einem Morgen im April 2015. Der Student Da Koko, 29, steht in der Produktionshalle von Olam in Bouaké, der größten Cashewfabrik Westafrikas. Er arbeitet dort vier Nächte die Woche. Tagsüber in den Vorlesungen ist er müde, unkonzentriert. Er studiert Philosophie an der Universität Alassane Ouattara. Die Fabrikarbeit ist hart, doch Da Koko hat keine andere Möglichkeit, sein Studium zu bezahlen.

Als er mit zwei Kollegen eine Ladung Cashews aus dem Kippofen wuchtet, löst sich ein Teil. Die drei stemmen sich dagegen, können es aber nicht halten. Da Koko steht in der Mitte. Die anderen beiden retten sich mit einem Sprung zur Seite. Da Koko wird eingeklemmt, sein Kopf zerdrückt. Blutend liegt er auf dem dreckigen Boden. Als sein Bruder Pale Sansan Jonas einige Stunden später ankommt, ist er tot. Wahrhaben will der das bis heute nicht. Er spricht von seinem Bruder, als lebte er noch.

Was mit Da Koko passierte, war Pech, könnte man sagen. Doch in den letzten Monaten starben mehrere Studenten. Weil sie gefährliche Jobs hatten wie er, oder weil sie krank wurden und sich keinen Arzt leisten konnten. Sie starben, weil sie arm waren, und studierten, um der Armut zu entkommen. Seit dem Bürgerkrieg haben sich die Probleme der Studenten in Bouaké verschärft: Die Studiengebühren wurden erhöht, die Wohnheime noch nicht wiedereröffnet, und Jobs sind rar. Am Stadtrand von Bouaké, in Sichtweite des Campus, steht ein Dorf, in dem die Studenten weiterkämpfen und aus dem wenigen, was sie haben, das Beste machen.

Das „Dorf der Studenten“, so nennen die Leute Adje Yaokro. Von einer vierspurigen Ausfallstraße verläuft ein staubiger Weg zu einer Ansammlung von Hütten aus Lehmziegeln. Vorbei an einem Copyshop, einem Friseur in einem Bretterverschlag und Garküchen führt er zu einem kleinen Platz. Unter einem Mangobaum stehen einige Stühle im Schatten. Jeden Tag fegen die Studenten den Platz.

Mehrere Jahre stand das Dorf fast leer. Als 2002 der Bürgerkrieg das Land zerriss, wurden die Bewohner vertrieben. Sie gehörten der falschen Ethnie an – aus Sicht der Rebellen. Sobald wieder Frieden einkehrte, ließen sich die Studenten in Adje Yaokro nieder. Es ist ein Ort, der aus der Not geboren wurde, und an dem die Hoffnung nicht sterben mag.

Emanuel Kouadio zog 2012 in das Dorf. Er ist 26 und studiert BWL. Sein türkis gestrichenes Haus grenzt an den Platz mit dem Mangobaum, er teilt es sich mit einem Pärchen. Sie denken oft an den Tod ihres Kommilitonen Da Koko. Denn sie haben das gleiche Problem, das er hatte: Armut.

Wie Emanuel geht es vielen Studenten in Bouaké. Meist sind ihre Eltern Tabak- oder Kakaobauern. Jede Schwankung der Weltmarktpreise bedroht ihre Existenz. Einige von ihnen können nicht lesen oder schreiben und setzen alles Geld und alle Hoffnung in das Studium ihrer Kinder. Trotzdem brauchen viele Studenten Nebenjobs, um die Studiengebühren bezahlen zu können, die Miete, das Essen.

Während des Bürgerkriegs wurde die Universität von Bouaké zerstört, der größte Teil des Campus war Frontgebiet. Verwaltung, Dozenten und Studenten zogen nach Abidjan um, die größte Stadt des Landes. 2012 wurde die Universität wiedereröffnet. Von „neuester Technologie“ war im Staatsfernsehen RTI die Rede. „Alles nur Fassade“, sagen die Studenten. Die alten Gebäude seien nur angestrichen worden.

Von der Regierung bekommen die Studenten nicht die nötige Hilfe. Im Gegenteil: Stipendien sind schwer zu bekommen, auf dem Campus hört man, die Vergabe sei korrupt. Nur wer die richtigen Leute kenne und ihnen einen Prozentsatz abtrete, habe eine Chance bei der Bewerbung. Die Studiengebühren haben sich seit dem Bürgerkrieg verfünffacht: von umgerechnet etwa neun Euro im Jahr auf rund 46 Euro. Für Master-Studenten und Doktoranden noch mehr.

Viele Studentinnen zahlen für ihr Studium einen noch höheren Preis: Sie verkaufen sich selbst.

„So viel Geld habe ich ganz einfach nicht“, sagt Désirée Konan*, 24, deshalb prostituiert sie sich. „Irgendetwas muss man ja tun, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.“ Sie erzählt die Geschichte einer Freundin, die für Geld mit Männern schläft. Doch im Grunde ist es ihre eigene. In kurzen Röcken und mit billigen Perücken stehen die Studentinnen auf dem Straßenstrich von Bouaké. Ihre Kommilitonen wissen davon. Das sei leicht verdientes Geld, sagen sie, hinter ihrem Rücken. Sie würden es sich einfach machen und andere Jobs scheuen.

*Name geändert

Einfach ist es für Désirée Konan nicht. Ohne Drogen und Alkohol sei es am Anfang fast unerträglich gewesen, den eigenen Körper einem Fremden zu überlassen. Die Studentinnen verdienen umgerechnet 1 bis 1,50 Euro pro Freier. Manche zahlen überhaupt nichts. Die meisten weigern sich, ein Kondom zu benutzen, obwohl die HIV-Rate in der Elfenbeinküste bei knapp drei Prozent liegt. Viele Studentinnen werden schwanger oder krank. Manchmal beendet der Nebenjob ihr Studium – oder ihr Leben.

Die Studenten im Dorf Adje Yaokro sind wütend über diese Zustände. Die Studiengebühren wurden erhöht. Was haben sie davon? Nichts. Wohnheime wurden ihnen versprochen. Was ist passiert? Nichts. Ihre Kommilitonen sterben. Wer unternimmt etwas dagegen? Niemand.

Ihre Wut ist gegen die gerichtet, die etwas dagegen tun könnten: die Studentenvertretungen und der Präsident der Universität.

In der Elfenbeinküste wurden sogenannte Studentensyndikate gegründet, damit sie die Rechte ihrer Kommilitonen verteidigen. Sie verstehen sich als apolitische Stimme der Studenten. Tatsächlich sind sie die Sprachrohre der Parteien. Während des Bürgerkriegs waren sie die Schlägertrupps der Regierung. Auch heute unterdrücken sie jene, die zu kritisch nachfragen, sich zu laut beschweren.

Das größte Studentensyndikat in Bouaké ist CEECI. Als selbsternannte Sheriffs kontrollieren seine Mitglieder den Campus. Nicht mehr mit Macheten, die Zeiten haben sich geändert. Doch sie postieren sich an zentralen Stellen des Geländes und behalten alles im Blick. Unliebsame Kommilitonen schicken sie in der Schlange vor der Mensa weiter nach hinten oder durchsuchen grundlos ihre Taschen.

Der andere, der sich für die Probleme der Studenten einsetzen könnte, ist der Präsident der Universität, Lazare M. Poamé. Er ist ein massiger Mann und spricht mit ausladenden Gesten. „Unsere finanziellen Mittel sind leider auch begrenzt“, sagt er und lehnt sich in seinem Sessel zurück. Was von der Regierung komme, reiche nicht. Drei Mitarbeiter sitzen neben ihm in seinem klimatisierten Büro und nicken an den richtigen Stellen. Er redet gerne über Erfolge – die der Universität und seine eigenen. Über tote Studenten redet er weniger gern. Für das Soziale sei das Studentenwerk zuständig.

Von seinem Schreibtisch nimmt er zwei Mappen. Darin: Pläne für sein Bauprojekt „Neu-Bouaké“. Eine Universitätsstadt, wie er es nennt, mit Souvenirshop, Einkaufszentrum und 1000 Unterkünften auf 200 Hektar; eine Fläche, die etwa siebenmal so groß ist wie das derzeitige Gelände. Die Vermesser waren bereits da, und die ersten Unternehmen haben Angebote abgegeben. Er möchte einen Minister für die Grundsteinlegung gewinnen. Ein neues Riesen-Wohnheim? „Nein, nein“, sagt Paomé, „kein Wohnheim. Die neuen Unterkünfte sind für Dozenten und Personal. Nicht für die Studenten.“

Viele Dozenten sind gegen Poamé. Doch sie können ihn nicht abwählen. Nach dem Ende des Bürgerkriegs wurde das Gesetz geändert: Der Universitätspräsident wird seitdem von der Regierung ernannt. Pierre Kramoko, Vize-Chef der ältesten Dozentengewerkschaft in Bouaké, SYNARES, kritisiert das aufs Schärfste.

Kramoko hat in der Vergangenheit gesehen, welche Wucht Studentenproteste entwickeln können. Die Regierung fürchtet sich vor den Studenten und Dozenten, sagt er. „Wenn du in Afrika so ein hohes Bildungsniveau erreichst, wirst du zur Gefahr.“ Die Regierung instrumentalisiere den Präsidenten und die Syndikate, damit sie gemeinsam die Opposition ersticken.

Das sei auch der wirkliche Grund, warum die Wohnheime geschlossen sind. In der Vergangenheit formierten sich dort oft die Proteste. Die Zimmer waren Rückzugsort und Hauptquartier der Widerständler.

Acht Wohnheime stehen auf dem großen Campus, neue Gebäude in Ockergelb, die Platz für 1300 Studenten bieten. Es gibt Toiletten und Waschbecken, in den Zimmern stehen Schränke und Betten. Doch sie sind leer. Die offizielle Begründung der Universitätsleitung: Es fehlt eine Abwassergrube. Wie der Vize-Chef der Dozentengewerkschaft vermuten jedoch viele Studenten, dass politische Interessen dahinterstecken.

Auf Campus 1 ist ein Teil der Häuser bewohnt. Um einen Platz zu bekommen, brauche man allerdings gute Kontakte, sagen die Studenten. Die haben die meisten nicht, wie Djeneba Coulibaly, 23, Gisele Konan, 22, und Marie-Désirée Kouakou, 18. Die drei Studentinnen wohnen deshalb in Adje Yaokro, gleich hinter dem Platz mit dem Mangobaum – auch wenn sie sich dort nicht sicher fühlen.

Einer der Nachbarjungs ist Sangare Brahima. Er ist der Spaßmacher der Gruppe, einer der für gute Laune sorgt. Sangare hat im Studentendorf vor allem eins gelernt: zu improvisieren.

Ein Stück hinter Sangares Haus stellen zwei Brüder Lehmziegel her und bauen Holzstühle. Andere Bewohner verkaufen selbstgemachtes Popcorn in kleinen Plastikbeuteln. Sie alle prägen Adje Yaokro, machen aus dem wenigen Vorhandenen etwas Neues, aus dem Improvisierten etwas Dauerhaftes.

Abends geht Sangare manchmal mit Freunden zum Fußballfeld an der Campusmauer; ein staubiger Acker, in den Stöcke gerammt sind. Oder sie spielen mit den Studentinnen von nebenan Scrabble und essen gemeinsam.

Oft hören sie Emanuel, der in dem türkisfarbenen Haus wohnt, auf der Trompete üben. Er ist froh, in einer Gemeinschaft zu leben. Seine Nachbarn achten darauf, dass niemand seine Instrumente stiehlt. Sie kennen sich, sie unterstützen sich. Gemeinsam träumen sie davon, die Armut hinter sich zu lassen. Sie wollen Dichter, Professor oder Musiker werden.

Im Studentendorf kamen Veronika Wulf und Raphael Thelen täglich an Kindern vorbei, die aufgeregt riefen: „One, two, three, four!“ Endlich konnten sie ihr Englisch anwenden und von den fremden Weißen noch mehr Zahlen lernen. Jeden Tag. Als sie sich der Zehn näherten, war die Sechs wieder vergessen. Und eigentlich war das egal.

Making Of