Städtepartnerschaft

Einmal Paradies und zurück?

Viele Menschen in der Elfenbeinküste träumen von einem besseren Leben in Europa, in Deutschland. Viel weiß man jedoch nicht von dem Land, wo es schneit und der FC Bayern spielt. Zwei Schüler aus Bouaké hatten jetzt Gelegenheit, sich ein eigenes Bild zu machen – in der Partnerstadt Reutlingen. Von Freya Altmüller


Schon seit 45 Jahren sind die beiden Städte befreundet. Kurz nachdem die Bürgermeister die Urkunde unterzeichnet hatten, benannte Bouaké eine Straße in Avenue Reutlingen um. Doch was wissen die Bewohner von der deutschen Partnerstadt?

Marie Noelle und Youssouf wurden ausgewählt, weil sie zu den besten Deutschschülern ihres Gymnasiums zählen. Kaum einer aus ihren Familien hat je die Elfenbeinküste verlassen. Viele ihrer Gleichaltrigen noch nicht einmal ihre Heimatstadt. Die Stadt Reutlingen hat sie zu einem Kunstworkshop eingeladen, auch Jugendliche aus den anderen Partnerstädten, aus den USA, Großbritannien, Ungarn, der Schweiz, Frankreich und Tadschikistan sind dabei.

Europa sei das Paradies, haben Marie Noelle und Youssouf gehört. Man müsse nur die Straße entlang spazieren und das Geld vom Boden aufheben. Ein Flug nach Deutschland kostet ein durchschnittliches Jahreseinkommen. Sie solle ihm einen Computer mitbringen, hat ein Freund von Marie Noelle sie vor der Abreise gebeten. Was die Schüler in 7000 Kilometern Entfernung tatsächlich erwartet, wissen sie nicht.

Am Flughafen holt eine Mitarbeiterin des Kulturamts der Stadt die beiden ab. Das erste, was Marie Noelle und Youssouf in Deutschland auffällt, sind die asphaltierten Straßen. Keine Schlaglöcher, kein Staub, kaum Müll. Alle Menschen haben es eilig. Obwohl die Sonne scheint, ist es den beiden bei 24 Grad kalt. In Bouaké sind sie 30 bis 35 Grad gewöhnt. Später, am Abend, empfängt sie ihre Gastfamilie, die Schenks. Tochter Veronika ist so alt wie sie und gehört zu den Teilnehmern des Kunstworkshops. Die Schenks wohnen in einem typischen Einfamilienhaus mit Garten.

In Bouaké leben Marie Noelle und Youssouf mit ihren Familien auch in Steinhäusern mit fließend Wasser und Strom. Aber einen Computer, eine Waschmaschine und eine Küche mit Esstisch besitzen sie nicht. So etwas gilt in ihrer Heimat als Luxus. Marie Noelle wohnt mit ihrem jüngeren Bruder und zwei älteren Geschwistern bei ihrem Vater, einem Soldaten. Die Eltern leben getrennt. Marie Noelle teilt Zimmer und Bett mit ihrer älteren Schwester. Nur für Abendessen ist zu Hause gesorgt, Mittagessen und Frühstück muss Marie Noelle sich selbst organisieren. „Mein Papa sagt, ich bin alt genug.“

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    Youssouf lebt in einem Stadtviertel, das nachts häufig ohne Strom ist. (Foto: Isabel Stettin)

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    Seine Mutter bereitet im Hof das Abendessen vor. Gekocht wird mit Holzkohle. (Foto: Isabel Stettin)

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    Youssoufs Familie isst zweimal am Tag gemeinsam. Gegessen wird mit den Händen. (Foto: Isabel Stettin)

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    Youssoufs Vater ist gläubiger Muslim. Seine Töchter verschleiern sich, wenn sie aus dem Haus gehen. (Foto: Isabel Stettin)

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    Nachts schläft oft eines der Kinder auf dem Sofa im Wohnzimmer. Für die mehr als zehn Familienmitglieder gibt es nicht genügend Schlafplätze. (Foto: Isabel Stettin)

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    Youssouf und Marie Noelle kommen zu Fuß zur Schule. Schulbusse gibt es nicht. (Foto: Isabel Stettin)

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    Die meisten Straßen in Bouaké sind nicht asphaltiert. Wenn es regnet, wird es so matschig, dass die Lehrer mit ihren Motorrädern nicht zur Schule fahren können. Dann fällt der Unterricht aus. (Foto: Isabel Stettin)

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    Kurz vor ihrer Abreise nach Deutschland: Die beiden sind aufgeregt. (Foto: Isabel Stettin)

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    „Guten Morgen, Herr Lehrer!“ Betritt ein Lehrer das Klassenzimmer, erheben sich alle Schüler und grüßen ihn. (Foto: Isabel Stettin)

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    Youssouf und Marie Noelle haben das große Los gezogen. Viele ihrer Mitschüler beneiden sie für die Einladung nach Deutschland. (Foto: Isabel Stettin)

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    Lehrer Dodohoré war schon einmal in Deutschland. Er wird sie begleiten, das beruhigt die beiden. (Foto: Isabel Stettin)

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    Rund 250.000 Schüler in der Elfenbeinküste lernen Deutsch. Beim germano-ivorischen Festival ist die Stadthalle von Bouaké bis auf den letzten Platz besetzt. (Foto: Stefan Junger)

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    Tanzen gehört immer dazu: Schüler-Aufführung beim germano-ivorischen Festival. (Foto: Stefan Junger)

Youssouf lebt mit zehn Familienmitgliedern unter einem Dach. Wenn seine beiden Cousins zu Hause sind, bleibt für ihn nur ein Schlafplatz auf dem Boden. Sein Vater arbeitet bei einem Busunternehmen, seine Mutter als Händlerin auf dem Wochenmarkt. Beide sind nicht zur Schule gegangen, sie sprechen kaum Französisch, nur Abron, eine der über 60 Sprachen in der Elfenbeinküste.

Hintergrund Städtpartnerschaft:
Austausch ist nicht gleich Austausch

Welchen Sinn macht eine Partnerschaft zwischen Kommunen, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt liegen? Mehr als 60 Gemeinden aus Deutschland haben Partnerstädte in Afrika. Zu den ältesten Beziehungen gehört die zwischen Reutlingen und Bouaké in der Elfenbeinküste.

An ihrem ersten Tag in Reutlingen nimmt Veronika ihre Gäste aus Afrika mit in ihre Klasse. Alle drei tragen traditionelle afrikanische Kleidung, die Youssouf und Marie Noelle mitgebracht haben. Als Schwarze fühlen sich in der Schule unwohl unter so vielen Weißen, erzählen sie später. Sie haben das Gefühl, jeder schaut sie an. Marie Noelle fürchtet, dass niemand etwas mit ihr zu tun haben will. Doch bald merkt sie, dass sich die Schüler freuen, sie zu sehen.

Kaum einen Tag hier, bekommt Marie Noelle Zahnschmerzen. Schon in Bouaké hatte sie hin und wieder darunter gelitten, war aber nie zum Arzt gegangen. Eine Krankenversicherung haben in der Elfenbeinküste die wenigsten. Die Mitarbeiterin des Kulturamts begleitet sie in die Praxis. Marie Noelle wird geröntgt, bekommt einen Zahn gezogen und danach die Fäden. Die Kosten übernimmt das Rathaus.

Um ihre Eindrücke in Deutschland festzuhalten, schenken die Gasteltern ihnen Kameras. Am Esstisch probiert Marie Noelle gleich das Filmen aus. Viereinhalb Tage später hat Youssouf 1366 Fotos gemacht und elf Videos gedreht. Sie zeigen den Bodensee, Tübingen und Ofterdingen, Orte, die sie aus ihrem Deutschbuch in der Elfenbeinküste kennen. In Ofterdingen, einem typisch süddeutschen Dorf, haben sie genau das Bild nachfotografiert, das im Lehrbuch abgedruckt ist.


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Im Dorf wunderten sie sich, wie ruhig es ist – gar nicht, wie sie es aus afrikanischen Dörfern kennen. „Bei uns ist es belebter, zumindest, wenn die Leute nicht gerade auf den Feldern arbeiten“, sagt Marie Noelle.

Auch im Haus der Gastfamilie hat Marie Noelle fotografiert, was ihr auffällig erschien. Zimmerpflanzen, die Toilette...

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    Pflanzen im Zimmer? Die spinnen, die Deutschen, muss sich Marie Noelle gedacht haben. (Foto: Marie Noelle)

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    Ein WC mit Knopf-Spülung hält Marie Noelle für ein Zeichen von Luxus. In Bouaké haben so etwas nur die Reichen. (Foto: Marie Noelle)

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    Auch der Heizlüfter im Haus ihrer Gastfamilie war ihr ein Foto wert. In Bouaké herrschen das ganze Jahr über Durchschnittstemperaturen von 20 bis 30 Grad. (Foto: Marie Noelle)

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    Die Nagellack-Sammlung der 17-jährigen Veronika ist nicht nur für Jugendliche aus der Elfenbeinküste durchaus bemerkenswert. (Foto: Marie Noelle)

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    Modeschmuck und High Heels: Das muss Marie Noelle ihren Freundinnen zu Hause zeigen. (Foto: Marie Noelle)

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    Während Youssouf zu Hause in einem Bett mit seinen Cousins oder auf einer Matte am Boden schläft, hat er hier ein Bett für sich. (Foto: Youssouf)

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    Obwohl die Elfenbeinküste weltweit am meisten Kakaobohnen exportiert, sind Schokoladen-Produkte weitgehend unbekannt im Land. Sie werden hier nicht produziert und sind sehr teuer. (Foto: Marie Noelle)

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    Motorradfahren nur zum Spaß – in Bouaké sind Zweiräder das wichtigste Transportmittel. (Foto: Youssouf)

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    Burg Hohenzollern bei Tübingen: Auch die Touristen-Klassiker werden natürlich abgelichtet. (Foto: Youssouf)

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    Historische Kostüme im Burghof. (Foto: Youssouf)

Ein Waschbecken und eine Dusche in Bouaké – das fänden Marie Noelle und Youssouf „hübsch“. Aber sauber wird man auch mit Wasser aus dem Eimer, sagt Youssouf. Auch sensorgesteuerte Wasserhähne und Klobrillen, die sich automatisch reinigen, faszinieren die beiden. Aber es gibt auch Dinge, die sie hier komisch finden. Was Marie Noelle auffällt: Großeltern leben meist für sich. „Bei uns gibt es Solidarität“, sagt sie. Das bedeutet: Wenn einer in der Familie ein Problem hat, ist es auch das Problem der anderen. Gemeinsam wird versucht, eine Lösung zu finden. Sie kann nicht verstehen, wie Menschen in der Fußgängerzone an Bettlern vorbeigehen können, ohne ihnen zu helfen. Als Youssouf einmal an einem Infostand für Hilfsprojekte in Uganda vorbeikommt, spendet er zwei Euro. Wenn sich Gleichaltrige auf dem Schulhof küssen, sind sie schockiert. Das würde in der Elfenbeinküste niemand tun, nicht einmal verheiratete Paare.

„Drucken ist ein Abenteuer“ heißt der Kunstworkshop, in dem die Schüler eine Woche lang arbeiten. Youssouf hatte noch nie Kunstunterricht, Marie Noelle in zwölf Schuljahren nur ein Jahr. In Bouaké gibt es kaum Lehrer, die das Fach unterrichten können. In Teams mit deutschen Schülern haben Marie Noelle und Youssouf Motive zum Thema „Begegnung“ entworfen.

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    Youssouf und Chiara mit ihrem ersten Entwurf zum Thema „Begegnung“. (Foto: Wolfgang Stöhr)

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    Schwarz und weiß: Mit Farbrollen werden die Druckplatten bestrichen. (Foto: Freya Altmüller)

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    Durch eine Walze gedreht, druckt die Holzplatte auf Papier. (Foto: Freya Altmüller)

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    Am letzten Tag des Kunstworkshops werden die Bilder in der Volkshochschule ausgestellt. Youssouf hat das weiße Gesicht gemalt, Chiara das schwarze. (Foto: Freya Altmüller)

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    Nicht nur über das Projekt sind Freundschaften entstanden. Youssouf hat jetzt viele neue Kontakte, um Deutsch zu üben. (Foto: Freya Altmüller)

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    Brücken geschlagen: Über Facebook hält Marie Noelle Kontakt mit Veronika. (Foto: Freya Altmüller)

In den letzten drei Tagen können die Schüler machen, was sie wollen, und das heißt: Shoppen. Kleidung, Schuhe und Kosmetik. 150 Euro geben die Schüler pro Nase aus, 50 haben ihnen ihre Eltern mitgegeben, 100 haben sie in Reutlingen als Gastgeschenk bekommen. Am Ende haben sie so viel gekauft, dass jeder von ihnen ein zusätzliches Gepäckstück braucht.

Viel wertvoller sind für sie aber die Kontakte, die sie mit nach Hause nehmen. Vor seiner Reise nach Reutlingen hatte Youssouf versucht, über Facebook Freunde in Deutschland zu finden. Keiner hat geantwortet. Jetzt hat er viele Kontakte zu Jugendlichen, mit denen er Deutsch üben kann.

Die Schüler sind sich einig: Die Reise nach Deutschland hat ihr Leben verändert. „Ich habe nicht mehr die gleiche Sicht wie die anderen“, sagt Marie Noelle, und erinnert sich an ihren Freund, der von ihr einen Computer wollte. „Ich habe ja nicht mal das Geld um mir selbst einen zu kaufen.“ Am Abend vor der Abreise sagt sie: „Ich will nicht fahren. Ich werde einfach furchtbar krank und dann muss ich hier bleiben.“

Als Youssouf zurück in Bouaké ist, erzählt er seiner Familie, wie gut es ihm in Deutschland gefallen hat. Er kann es kaum erwarten, zurückzukommen. „Du kannst doch in Deutschland Abitur machen“, schlagen seine Eltern vor. Spätestens zum Studium will er wieder da sein, wie Marie Noelle. Ihr Lehrer will ihnen dabei helfen. Was die Elfenbeinküste braucht, ist nicht Geld von Industrieländern, sondern gut ausgebildete Arbeitskräfte, glaubt er. „Nur wir können für die Entwicklung unseres Landes sorgen“, sagt der Lehrer. Nach dem Studium sollen die Studenten daher zurückkommen und zum Wirtschaftsaufschwung beitragen. Youssouf aber hat andere Pläne: „Wenn ich einen Job in Deutschland finde, bleibe ich für immer da.“




Freya Altmüller wollte die Schüler am letzten Shopping-Tag eigentlich nur kurz zum Filmen begleiten. Als ihr Lehrer verschwunden war, blieb sie bis zum Ladenschluss, als die beiden aus der Tür gescheucht wurden.

Making Of