Vertreibung
Gestohlene Heimat
Um die Häuser der Stadt Bouaké tobt ein stiller Kampf. Wer im Bürgerkrieg geflohen ist, fand sein Haus besetzt oder zerstört wieder. Bis heute kommt es zu Vertreibungen. Tür an Tür mit den Besetzern fällt Versöhnung schwer. Von Isabel Stettin, Pascale Müller und Samanta Siegfried
Seit 2012 herrscht Frieden in der Elfenbeinküste. Doch bis heute leiden die Menschen an den Folgen des Bürgerkriegs. Wer vor Kämpfen und Plünderungen geflohen war, fand sein Haus bei der Rückkehr besetzt oder zerstört wieder. Präsident Alassane Ouattara hat versprochen, die Menschen im Land zusammenzuführen und zu versöhnen. Aber ohne Ausgleich für ein verlorenes Zuhause wird Aussöhnung scheitern. Selbst jenen, die während des Krieges in Bouaké blieben, droht bis heute Enteignung. Zum Beispiel, wenn sie in den Kriegswirren ihre Grundstückspapiere verloren. So wie Sogoba Korotoum. Ihr Sohn, in dessen Namen das Haus gekauft wurde, fiel im Krieg. Heute kann sie sich nicht mehr als Besitzerin ausweisen. Mehr als zehn Jahre nach dem Bürgerkrieg wird ihr darum ihr Zuhause streitig gemacht.
Sogoba Korotoum sorgt für zehn Kinder. Sechs sind ihre eigenen, vier von der zweiten Ehefrau ihres Mannes, die gestorben ist. Allein versorgt sie die Großfamilie. Nachmittags erholt sie sich auf der löchrigen Schaumstoffmatratze vor dem Haus. Ihre Enkeln spülen im Innenhof Plastikflaschen. Sobald es dämmert, geht Sogoba Korotoum eine Straße weiter, in die Rue 28, und verkauft „Attiéké“, eine Art Couscous aus der Maniokwurzel. Erst um Mitternacht packt sie ihre Töpfe zusammen und geht nach Hause.
„In meinem alten Haus hatte ich Ruhe und Frieden“, erzählt Korotoum, während sie versucht, mit dem Palmfächer Fliegen und Hitze zu vertreiben. „Zwölf Jahre habe ich in diesem Haus gelebt, und auf einmal stellt man dich irgendwo ab, mitsamt deinen Kindern.“ Knapp fünfzehn Quadratmeter teilt sich die Familie heute.
Fast zehn Jahre lang herrschte in der Elfenbeinküste Gewalt. Rebellen und Armee folterten, mordeten, brannten Häuser nieder. Der Bürgerkrieg und die darauffolgende Regierungskrise spalteten das Land. Im Süden die Regierungstruppen, im Norden die Rebellen, dazwischen eine Million Ivorer auf der Flucht. Sie ließen ihre Häuser zurück, ihre Heimat. Oft nur mit dem Notwendigsten im Gepäck. Bouaké war als Hauptstadt der Rebellenarmee besonders umkämpft. „Auf der Hauptstraße nach Yamoussoukro sah ich die Menschen wie auf einer Perlenschnur aufgereiht“, sagt Aman Doumbia, der einzige Menschenrechtsaktivist, der den gesamten Krieg hindurch in der Region ausharrte. „Es war ein Exodus.“
Vor allem nachts schlugen sie sich durch die Buschlandschaft. Etwa 200.000 Menschen gelangten so über die Grenze ins benachbarte Liberia. Andere blieben in der Elfenbeinküste. Sie lebten in Notunterkünften, drängten sich in Schulen, schliefen in Kirchen und Moscheen. Viele Einwohner aus Bouaké kamen bei Verwandten und Freunden unter, in vermeintlich sichereren Städten wie Abidjan oder Yamoussoukro. Ihre verlassenen Häuser oder Grundstücke besetzten die Rebellen.
Auch Zivilisten nutzten das Chaos und drangen ein in fremde Häuser. Plünderer stahlen stapelweise Dokumente aus der Präfektur oder dem Gerichtsgebäude, darunter Grundstücksurkunden. Sie kopierten die Formulare, änderten die Namen und verkauften damit die Häuser weiter. Die Rückkehrer hatten kein Zuhause mehr. Laut Schätzungen der Uno-Flüchtlingshilfe (UNHCR) leben noch heute 24.000 Vertriebene im eigenen Land. Viele wagen sich aus Furcht vor den Besetzern nicht zurück.
Das Zuhause von Michel N’Guessan wirkt einladend und friedlich. Gepflegt, geputzt und aufgeräumt. Ein Mangobaum spendet Schatten im Innenhof. Er wohnt mit seiner Frau zur Miete. Sein größter Traum ist es, sein eigenes Haus zu bauen. Michel N‘Guessan spricht leise und wenn er nicht spricht, klebt sein Blick auf dem Handy, das er in seinen Händen hütet wie einen Schatz. Es klingelt oft, und N’Guessan geht erleichtert ran, als habe er auf die Ablenkung gewartet. Über die Vergangenheit zu sprechen fällt ihm noch immer schwer.
Michel N’Guessan wohnt mit seiner Frau in „Air France‟, im gleichen Viertel, in dem er vor seiner Flucht lebte: Straße 29, nur zwei Ecken von Sogoba Korotoum entfernt. Das Wohngebiet ist ein Relikt aus der Kolonialzeit, in dem die Franzosen lebten, angelegt wie ein Gitter. Nur hier sind die Straßen nummeriert. „Air France‟ hat keinen guten Ruf. Tagsüber eine lebendige Gegend mit Straßencafés und erfüllt von Kindergeschrei, verwandelt sich das Viertel nachts in ein Revier für jugendliche Banden, die Menschen auf der Straße ausrauben.
Als Michel N‘Guessan im Jahre 2007 aus der Hauptstadt Yamoussoukro zurückkehrte, war sein Geburtshaus eine Ruine. Geplündert und zur Hälfte abgebrannt. Heute ist es verlassen, zugewuchert, die Mauern fleckig schwarz vom Ruß. Das zweite Haus seines Vaters besetzten Rebellen. „Das waren gefährliche Menschen und sie hatten gefährliche Menschen, die sie beschützten“, sagt Michel N’Guessan.
Von den Behörden ist Michel N`Guessan enttäuscht. Mehrmals bat er um Hilfe beim Gericht. Immer umsonst. Die Rebellen, die das Haus seines Vaters besetzt hatten, verschwanden eines Tages einfach. Glück statt Gerechtigkeit.
Nicht alle teilen die Meinung des Präfekten. Nur ein Stockwerk unter seinem Büro sitzt Douza Wayou. Eine Plastikblume an der Wand, ein Kalender von 2014 vor sich. Der Leiter einer seit 2013 eingesetzten Kommission kümmert sich um die Fälle, von denen der Präfekt sagt, es gebe sie nicht mehr: Besetzungen durch Rebellen, wie bei Michel N‘Guessan. Aktuell sind es 15.063 unbearbeitete Fälle. Wie ein trotziger Beweis stapeln sich die Aktenberge bis unter die Decke.
Für Douza Wayou und seine Kommission hat die Arbeit erst begonnen. Die Mitglieder seiner zehnköpfigen Truppe laufen durch Bouaké und klopfen an die Türen. Sie sitzen in Cafés und lassen sich zutragen, wo es noch besetzte Häuser gibt, versuchen immer wieder zu vermitteln. Eine frustrierende Aufgabe. Denn von alleine wenden sich viele Betroffene nicht an die Behörden. Wayou kennt nur die Zahl der Fälle, um die sich seine Kommission kümmert. Die Dunkelziffer, vermutet er, liege vielfach höher. Einer der Gründe ist simpel und zugleich kaum zu beheben. Die Menschen vertrauen der neuen Justiz nicht. Gerichte erinnern sie an Unterdrückung und Willkür. Das Problem der Siegerjustiz hält bis heute an.
Während sich der ehemalige Präsident Laurent Gbagbo vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten muss, bleiben Verbrechen auf der Seite von Ouattaras Rebellenarmee ungesühnt. Auch mehr als drei Jahre nach Ende der Regierungskrise wenden sich Betroffene deshalb lieber an Menschenrechtler, um ihre Probleme zu lösen. Neben Misstrauen ist es Unwissenheit und mangelnde Aufklärung. Besonders betroffen von Landübernahme und Besetzungen sind Menschen wie Sogoba Korotoum, die nicht lesen und schreiben können. Fast unmöglich, einen Prozess zu bestreiten oder überhaupt erst herauszufinden, wo Hilfe zu finden ist. Wer genug Geld und Beziehungen hat, kauft sich sein Haus zurück.
Abubakary Coulibaly ist Generalstaatsanwalt der Elfenbeinküste. Ein schwerer Mann im blauen Anzug, Siegelring am Finger und einem Blick, der traurig wird, wenn er über den Krieg spricht. „Eine schreckliche Zeit“, sagt er und wird einen Moment still. Im abgedunkelten Raum brummt die Klimaanlage. Coulibaly behandelt Fälle wie den der Witwe Sogoba Korotoum, in denen die Besetzer Zivilisten sind. „Bei sechzig Prozent aller zivilrechtlichen Klagen, die beim Gericht im letzten Jahr eingingen, ging es um Eigentum“, sagt er. Die Aufarbeitung werde Jahre dauern. Eine Aufgabe, bei der man jeden Tag kleine Schritte geht. „Selbst wenn es Erniedrigungen gab, ist das Wichtigste die Wiederherstellung von Eigentum.“
Keine zehn Meter trennen die Unterkunft von Sogoba Korotoum von ihrem früherem Haus. Besitzerin und Besetzer sind Nachbarn. Korotoum und ihre Familie wurden von der einen auf die andere Straßenseite der Rue 27 vertrieben. Drei, vielleicht vier Tage danach zogen Fremde ein. Miteinander gesprochen haben Sogoba Korotoum und die Besetzer nie. Ein Besuch auf der anderen Seite.
Das Tor zum Innenhof öffnet sich schwer. Vor dem großen, gelb gestrichenen Haus toben Kinder. Ein Junge in Windeln schreit nach seiner Mutter. Im Schatten des Vordachs dösen zwei Frauen auf den kühlen Fliesen der Veranda. Ein junger Mann lehnt an einer Säule neben ihnen. An Gesicht und Armen kleben Pflaster. Drei weitere Männer betreten den Hof, gehen vorbei. Auch sie sind verwundet. Es sind ehemalige Rebellen. Grußlos verschwinden sie im Haus.
Die Bewohner sind misstrauisch. Sie kennen Sogoba Korotoum nicht, beteuern sie. Dass sie ein Haus „besetzen“, wegen ihnen die Eigentümerin vertrieben wurde, wissen sie nicht, wollen es nicht wissen. Die Besetzer fühlen sich als rechtmäßige Bewohner. Schließlich zahlen sie seit zwei Monaten Miete. „Auch wir sind Opfer”, sagt eine der Frauen und zeigt hohe Stromrechnungen. Sie laufen weder auf ihren, noch auf den Namen der Vorbesitzerin, Korotoum. Man hat mich um meine Kaution betrogen, sagt der Rebell mit den Pflastern.
Später wird Sogoba Korotoum erzählen, sich habe sich einmal dem Haus zu nähern versucht. Daraufhin habe eine Frau die Polizei gerufen. „Die Polizisten haben mich verjagt“, erzählt Korotoum. Warum sie wie eine Verbrecherin weggetrieben wurde, versteht sie nicht.
Die Schuldfrage bleibt ungeklärt, wie in vielen dieser Fälle. Das Geflecht aus Justizversagen, politischen Interessen und Familienstreitigkeiten wird zu einem Dickicht, in dem die Wahrheit schon lange verlorengegangen ist. Sie zu rekonstruieren fällt selbst denen schwer, die für die Rechtsordnung zuständig sind, wie Generalstaatsanwalt Abubakary Coulibaly.
Als Sogoba Korotoum und eine ihrer Töchter ihn aufsuchten, verwies er sie an einen Richter namens Kafana Coulibaly. Doch der ist auf einer Mission im Kongo unterwegs – wann er zurückkommt, bleibt ungewiss.
Making Of