Kultur
Zukunftsmusik
Vor dem Bürgerkrieg war Bouaké ein Magnet für Musiker aus dem ganzen Land. Heute ist es unmöglich, hier professionell Musik zu machen. Keine Proberäume, keine Orte, um aufzutreten. Viele Künstler verlassen die Stadt. Der Rapper LX bleibt. Seine Stimme ist seine Waffe. Von Hannes Opel und Jessica Sabasch
Manchmal, wenn er etwas betont, legt er die Hand aufs Herz. Mit einer roten Baseballcap, die er nie absetzt, steht er über den Dächern von Bouaké und rappt. Souleymane Donissongou Coulibaly, Künstlername LX. Von unten tönen die lauten Stimmen der Marktverkäufer. Lackgeruch steigt von der Werkstatt an der Straßenecke hoch. Autos hupen. Ein Muezzin ruft zum Gebet. Vor acht Jahren kam LX aus seiner Heimatstadt Korhogo nach Bouaké, um Musik zu machen. Seine Familie akzeptiert bis heute nicht, dass er Musiker geworden ist. Er spricht mit ihr in seinen Liedern.
Was es in Bouaké nicht gibt: professionelle Studios und Produzenten, Bühnen und Publikum, Equipment. Ja, nicht mal Instrumente. Proberäume, Konzerthallen. Plattenverträge. Labels. Scheinwerfer. Musikschulen. Verstärker.
Was es in Bouaké gibt: Sandpisten und Müll, Wäsche und Gewimmel. Orangefarbene Taxis und Motorräder. Marktstände, Muezzine.
Handyverträge. Hühner.
Talente.
Während des Kriegs kam LX zur Musik. An vielen Orten wurde gekämpft. „Wir mussten uns irgendwie beschäftigen.“ Inzwischen moderiert der 30-Jährige eine Radiosendung, leitet das Uniorchester, ist Slammer und Konzertveranstalter. Seine Stimme ist sein Instrument. Leben kann er davon nicht. „Die Leute geben kein Geld für Kultur aus. Sie kaufen lieber Kochtöpfe.“
Für ein Konzert oder die Moderation einer Veranstaltung bekommt LX umgerechnet 15 Euro, nicht viel mehr als die Fahrtkosten. „Es gibt keine Organisation der Künstler hier in Bouaké. Sie arbeiten nicht zusammen“, sagt er. Das Publikum zu erreichen sei schwer. Die Rebellenführer veranstalteten während des Bürgerkriegs Gratis-Konzerte mit ivorischen Superstars, um die Leute zu beruhigen. Die Bürger erwarten seitdem, dass Kultur umsonst ist. „Um ein Stadion voll zu bekommen, musst du schon Alpha Blondy sein.“
Reggae-Star Alpha Blondy tourt durch die Welt. Davon können die Musiker in Bouaké bisher nur träumen. Sie sitzen auf weißen Plastikstühlen, als ob sie auf den Bus warten, wollen ein paar Songs aufnehmen. Das Musikstudio ist ein abgetrenntes Wohnzimmer und wird von einer einzigen Steckdose versorgt.
Was gesungen wird, ist nicht so wichtig. Es geht um den Beat. Die Musikrichtung Coupé-Décalé hat sich während des Bürgerkriegs entwickelt. Die Stimme des Sängers überschlägt sich fast. Ein Ventilator wirbelt heiße Luft durch den Raum.
„Ein Fisch ohne Wasser ist kein Fisch“, sagt LX über die Musikszene in Bouaké. Er will trotz allem bleiben. Reggae-Musiker Alain Spyrow hat seine Heimatstadt verlassen, weil er professionell Musik machen wollte. Die Situation in Bouaké vergleicht er mit der einer Stadt nach einer Nuklearkatastrophe: der sichtbare Krieg ist vorbei. Unter den Auswirkungen aber leiden die Menschen noch lange.
Schon als kleiner Junge hat Spyrow in der Kirche gesungen. Manchmal bedauert er, dass er nichts anderes kann. 2001, kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs ging er nach Abidjan. Ihm war klar geworden, dass man als Musiker lebendige Orte braucht, wo Austausch stattfindet. Ein paar Jahre sang Spyrow in der Reggaeband Kingston Gangstar. Ab 2007 machte er als Solo-Künstler weiter. Ein Jahr später nahm er sein erstes Album auf „Jammoh Jammoh – Gott sei Dank“. 2015 ist sein zweites Album erschienen: „Jusqu’au bout! – Bis ans Ende.“ Spyrows Traum: auf Festivals in Europa zu spielen.
Auf einem Festival in Abidjan traf Spyrow den deutschen Reggae-Musiker Gentleman. Er hofft, einen gemeinsamen Song aufzunehmen, und lächelt wie einer, der schon oft im Leben gewartet hat. Selbst Abidjan, das musikalische Zentrum der Elfenbeinküste, findet wenig Beachtung in der internationalen Musikszene. „Wenn man hier von Reggae spricht, redet man meistens von den Superstars. Alpha Blondy und so“, sagt LX. Er fragt sich, von wem man in 20 Jahren sprechen wird, wenn man über Reggae aus der Elfenbeinküste spricht. „Ich vertraue auf Spyrow, dass er weitermacht. Weiterkämpft.“
Auch für LX kommt Aufgeben nicht in Frage. Radio Phenix, ein lokaler Radiosender, ist seine Basisstation. Hier bereitet er seine wöchentliche Sendung vor: „Horizon Radical“. Seit mehr als zwei Jahren beschäftigt er sich darin mit aktuellen, alltäglichen und kulturellen Themen. Er spielt internationalen Rap und Reggae: „Ich mag Musik, die den Geist weckt.“ Da Radio Phenix zu den privaten Sendern der Elfenbeinküste gehört, kann sich LX nur indirekt zu politischen Themen äußern. Zensur findet statt.
Zensur bedeutet für die Künstler in Bouaké auch, dass sie kleingehalten werden. Selbst im wieder aufgebauten Kulturzentrum Jacques Aka – dem ältesten Kulturzentrum der Elfenbeinküste – gibt es für Musiker kaum Unterstützung. „Wir sind nicht die Kunstschaffenden. Wir stellen die Räume zur Verfügung“, sagt Komoe Koua Honorat, der seit 2009 Leiter des Kulturzentrums ist. Sein Büro ist ein Kühlschrank, die Klimaanlage läuft auf Hochtouren. Um in den Räumen des Jacques Aka zu spielen, müssen Musiker umgerechnet 100 Euro bezahlen. Die meisten Bands können sich das nicht leisten. Das wahre Problem der Künstler aber sei, dass sie sich nicht ernsthaft genug um ihre Angelegenheiten kümmerten, meint Honorat. „Es gibt Stellen, wo ihnen geholfen wird.“
LX kennt diese Institutionen, von denen man wenig Unterstützung bekommt. Er wünscht sich, dass Kunst in der Elfenbeinküste irgendwann so gefördert wird wie Kakao oder Kaffee.
Der Ton seiner Lieder ist politisch und zugleich poetisch. Im Radio sprechen und Musik machen ist für LX das Gleiche. „Ich will von der Gesellschaft erzählen. Darum bin ich hier.“
Radikale Widersprüche können für Bewegung stehen, im Denken und im Handeln. Dies deutet sich in den zwei Buchstaben seines Namens an. Das L steht für Martin Luther King, das X für Malcolm X.
Die Gespräche mit Freunden im „Grin“, einer Hütte, in der sie gemeinsam Tee trinken, bringen LX auf Ideen für Texte. Während der Tee mehrmals auf- und so lange umgegossen wird, bis er schäumt, sprechen sie über die Probleme in Bouaké. Über Politik und Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit der Jugendlichen. Die Hausbesetzungen. Menschen, die geflohen sind, können oft nicht in ihre Häuser zurück. Sie werden illegal besetzt. „Das Verhältnis zwischen Rebellen und Regierung bestimmt immer noch unseren Alltag“, sagt LX.
Während LX nach Bouaké gekommen ist, um etwas aufzubauen, und Spyrow seine Heimatstadt verlassen hat, war Seken nie woanders. Seit dem Bürgerkrieg geht er wie auf Sand, kommt nur schwer von der Stelle. Mit mehreren Jobs hält er sich über Wasser. Als Zimmermann und Schreiner, Schnitzer, Maler, Sänger, Gitarrist. Er träumt davon, als Künstler Erfolg zu haben. Die Situation in Bouaké beschreibt er so: „Viele Menschen haben keine Arbeit mehr, um ihr Leben zu finanzieren. Sie werden nicht unterstützt.“
Einige Leute behaupten, dass Seken einer der Rebellen gewesen sei. Dass er während des Bürgerkriegs gekämpft habe. Er spricht nicht darüber. Bevor er die Augen schließt, atmet er tief aus, als müsse er Mut fassen.
LX wohnt, wo die asphaltierte Straße Bouakés endet. Zur Universität ist es nicht weit. Auch sein Cousin lebt in der Nähe. Der einzige Verwandte in Bouaké. Sie treffen sich oft. Das Zuhause von LX ist ein schlichtes Zimmer mit Spüle. Ein Tisch mit drei Stühlen. Ein kleiner Fernseher. Der Herd im Hof. An der Wand Plastikblumen. Ein Ventilator. Hinter dem Vorhang das Schlafzimmer. Ein ruhiger Ort, „groß genug für uns“, sagt er.
Déborah kocht Tee. LX und sie haben sich letztes Jahr an der Universität kennen gelernt. Beide studieren Kommunikation. Sie teilen sich die Miete. Die Musik, das Radio, das Studium – das sind die drei wichtigsten Dinge, um die herum LX sein Leben organisiert. „Manchmal beschwert sich Déborah, dass ich bis spät nachts singe.“ Er findet, dass sie zu viel fernsieht.
Als LX vor acht Jahren nach Bouaké kam, hatte er noch Dreads. Die Mutter, die drei Geschwister musste er verlassen, um zu studieren, um Musik zu machen. Von der Mutter, die sich beklagt, dass er so selten anruft, davon, dass es manchmal leichter wäre, die Familie zu vergessen, erzählt er in seinem Song „Loin de la constance – weit weg von Stabilität“. Sich selbst beschreibt er darin als einen, der auf dünnem Eis geht. „Ich verbringe die Nacht mit einem Stift in der Hand.“
Der Campus wirkt am Nachmittag verlassen. Vögel zwitschern. Ein Gecko sonnt sich auf der Mauer. Drei Wachmänner sitzen hinter dem Eingangstor, schauen in einen kleinen Röhrenfernseher. Von Weitem sind Stimmen zu hören, ein Schlagzeug. Mittwochs und donnerstags probt die Band von LX auf dem Gelände der Medizinstudenten. Seit 2010 leitet er die Gruppe. Heute haben sich elf Musiker in die Anwesenheitsliste eingetragen. Fast alle sind Studenten an der Universität von Bouaké. Zurzeit bereitet sich die Band auf einen Wettbewerb vor, der jedes Jahr in der Elfenbeinküste stattfindet. Vergangenes Jahr sind sie Zweite geworden.
2010 entschied der Kulturbeauftragte der Universität, dass es eine Uniband geben soll. Der Proberaum wurde mit Instrumenten eines privaten Unterstützers ausgestattet. Das Schlagzeug ist von 1971. Das Mischpult aus den achtziger Jahren. Die Gitarren werden mit der Zange gestimmt, weil die Wirbel am Kopf der Gitarre fehlen. Die meisten Musiker in Bouaké haben keine eigenen Instrumente. Eine Bassgitarre kostet mit umgerechnet 200 Euro fast zwei durchschnittliche Monatsverdienste. Die Bands müssen hinkommen, wo die Instrumente sind. Für einige Bandmitglieder ist der Weg hierher weit.
„Die Vacances Cultures sind eine gute Möglichkeit, sich zu präsentieren, Kontakte zu knüpfen“, sagt LX. Er hat einen Song zum diesjährigen Thema „Interkulturelle Gemeinschaft“ geschrieben. Darin beschreibt er die mehr als 60 Ethnien, die in der Elfenbeinküste friedlich zusammenleben. LX will die Jugend an Solidarität, Frieden und Einheit im Land erinnern. „Die Jugend muss sich zusammentun. Muss die Versöhnung voranbringen“, sagt er. Die Band probt einen ivorischen Klassiker des berühmten Musikers Amédée Pierre: „Soklopeu“ – Tausendfüßler.
Making Of